Mein Augenarzt sagte gestern zu mir: „Glückwunsch – 80-100 Prozent! Jetzt sehen Sie auf dem Auge wieder wie eine 18jährige.“ Was er nicht wissen konnte: als ich 18 war, sah ich ohne Brille oder Kontaktlinsen ungefähr noch so viel wie ein Maulwurf.
Meine erste Brille bekam ich nämlich schon in der Grundschule. Ich hatte zwar alle Aufgaben richtig gerechnet, doch leider hatte ich die Zahlen alle falsch von der Tafel abgeschrieben, obwohl ich in der ersten Reihe saß…
Ich könnte also eigentlich behaupten, ich sehe jetzt die Welt wieder mit dem Auge eines Kleinkindes und tatsächlich sieht sie ohne den Lupeneffekt der Brille auch viel viel größer aus.
Die letzte Dioptrien-Zahl, die ich auf diesem meinem, jetzt neuen Auge vor meiner Katarakt-OP (Grauer-Star) erreicht habe, war -11 und mit Brille/Kontaktlinse hatte ich immerhin noch eine Sehfähigkeit von 40%. Für alle, die sich über ihre neue Lesebrille ärgern: das bedeutet, dass man ohne Brille noch Hell und Dunkel unterscheiden kann, Farben und Bewegungen, jedoch keine klaren Konturen und Übergänge, geschweige denn irgendwelche Details.
Wäre ich mit der Titanic untergegangen und hätte im Wasser meine Kontaktlinsen verloren, ich hätte also höchstwahrscheinlich keine rettenden Planken an mir vorbeitreiben sehen, es sei denn, sie wären neonfarben gewesen und hätten hektisch mit Armen gefuchtelt (die Planken normalerweise nicht haben) und gerufen (was Planken wohl ebenfalls nicht tun). Und dann hätte ich trotzdem noch ein Problem gehabt, sie zu fassen zu bekommen…
Wenn nüscht anderes geht-versuch´s wenigstens mit Humor zu nehmen
Was ich jetzt alles nicht zu erzählen hätte, hätte ich immer schon wie eine Adlerin sehen können. Immerhin habe ich einiges erlebt durch mein Maulwurf-Dasein. Ungefähr mit 12 habe ich im Freibad einmal unter Wasser einen türkischen Familienvater ordentlich ins Bein gezwickt, weil er sich in unmittelbarer Nähe eines Klassenkameraden befand, der mich vorher untergetaucht hatte. Gottseidank konnte ich die Reaktion nur hören, denn ich hatte beim Schwimmen natürlich keine Brille auf der Nase.
Als ich später für mein Schwimmabzeichen den Kopfsprung vom 3-Meter-Brett machen musste, hätte ich eigentlich noch eine extra Auszeichnung für besonderen Mut erhalten sollen – schon einmal ins Nichts gesprungen ohne zu sehen, ob jemand unter Dir schwimmt, ja, ob überhaupt Wasser im Becken ist?
Meine damalige Sportlehrerin war übrigens eine hervorragende Pädagogin: anstatt, wie ich sie gebeten hatte, ein Startsignal für den Sprung zu rufen, duldete sie keine Sonderbehandlung und nickte mir wie allen anderen stattdessen lediglich gönnerhaft zu. Was ich natürlich nicht sehen konnte. Weil ich noch nicht einmal sie sehen konnte. Was im Prinzip aber auch nicht schlecht war. So musste ich sie wenigstens im Schwimmunterricht nicht sehen…
Und einige Jahre später hätte ich fast den falschen Jungen zur Begrüßung geküsst, als ich mit meiner beschlagenen Brille in den Jugendtreff kam. Irgendeine Intuition ließ mich aber Gottseidank vorher noch inne halten…
Ach und all diese glückseligen Momente, die ich erlebt habe, wenn ich meine Brille verloren glaubte, hektisch danach herumgetastet hatte (denn logischerweise konnte ich meine Brille ohne Brille ja nicht sehen) und sie endlich wieder in den Händen hielt! Vielleicht hätte ich ja ohne all diese kleinen Glückshormonausschüttungen viel mehr Falten als jetzt bekommen?
Manche Dinge, die einem nicht gefallen, kann man einfach nicht ändern – sie sind wie sie sind, so scheint es jedenfalls. Und doch kann sich, wie man sieht (haha!), mit einem Mal unerwarteterweise gerade daraus etwas Positives ergeben. So wie in diesem Fall: die Diagnose Grauer Star führte dazu, dass ich jetzt (vielleicht sogar das erste Mal in meinem Leben) die Welt klar, scharf und in ihrer echten Größe sehen kann. Und meine Hornhautverkrümmung, die vor der OP zusätzlich zu der Kurzsichtigkeit ein Manko war, führt jetzt (warum auch immer) dazu, dass ich (im Gegensatz zu anderen Patientinnen und Patienten) nicht nur in der Ferne gut sehen kann, sondern auch ohne Brille lesen. Hammer!
Auf Scheiße können die herrlichsten Blumen wachsen
Was will ich damit sagen? Nun, alles ist eine Frage der Perspektive. Ich habe zum Beispiel nie zu denjenigen gehört, die eine Anstellung auf Lebenszeit hatte (oder wollte). Entweder habe ich als Freelancerin gearbeitet oder hatte befristete Arbeitsverträge. Immer wieder kam ich auch in die Situation, dass mir bedauernd mitgeteilt wurde, dass mein Arbeitsvertrag aus betrieblichen Gründen nicht verlängert werden konnte (so spart die Firma sich Festanstellungen), musste umdisponieren und mich umorientieren.
Oooh – stimmt nicht ganz! Nach der Schule hatte ich einen Jahresvertrag am Fließband bei einem bekannten Hersteller für Fernsehgeräte. Der hätte mich gerne behalten, ich aber das Fließband nicht. Und rauschte hinaus, mit 50-fachem Kopfschütteln im Nacken, hinaus in die Freiheit ohne Plan, wie es weitergehen könnte.
Es ging aber immer wieder weiter und – nicht nur das – es ging immer besser. Aus der Fabrikarbeiterin wurde eine Schneiderin, eine Diplomingenieurin, zwischendurch auch eine Café-Besitzerin, eine Musikerin, eine Projektentwicklerin, eine Schreiberin und vieles mehr. Natürlich kam das nie von ungefähr.
„Immer schön in Bewegung bleiben“
Mein Credo hat mir dabei geholfen: „Mach die Augen (und das Herz) auf, bleib in Kontakt zu Menschen, die gut für Dich sind, freue Dich darauf, Neues hinzu- und neue Menschen kennen zu lernen. Führe Dir vor Augen und freu Dich über das was Du hast. Versuche immer Dein Bestes zu geben und das Richtige zu tun und bleib vor allem ein anständiger Mensch. Dann ergibt sich der Rest von alleine.“
Ich gebe zu: reich bin ich damit nicht geworden. Ich habe kein dickes Auto, keine Eigentumswohnung, kein fettes Bankkonto, nüscht, was man heutzutage angeblich so alles unbedingt haben muss, was mir aber auch nie besonders wichtig war. Aber: ich habe mich noch nie in meinem Leben gelangweilt, im Gegenteil, es war und ist immer bunt, spannend, aufregend. Ich lernte und lerne viele wunderbare und unterschiedlichste Menschen kennen, konnte und kann vieles ausprobieren, Wissen, Erfahrungen und Kontakte anhäufen.
Mein Kapital ist zwar mau, aber mein kulturelles und soziales Kapital ist dafür so groß, dass ich mir sicher sein kann, dass ich immer eine offene Tür, ein offenes Ohr und kreative, fähige und herzliche Leute finde, die verlässlich an meiner Seite stehen, wenn es darum geht, etwas Neues anzufangen oder aufzubauen.
Bleibste heulend und jammernd auf dem Sofa oder am Tresen hocken, dann erwarte nicht, dass jemand an Deine Tür klopft und Dich strahlend fragt: „Hey, was geht? Ich hab da was für Dich…“, dann bleibt Dir im schlimmsten Fall nur noch ein schlechtes Fernsehprogramm oder irgendwelche Daddelspiele als tägliches Highlight.
Vieles habe ich von meinem Väterchen geerbt: der war in vielen Punkten, glaube ich, der typische sächsische Oberlausitzer, ein verlässlicher, solider und wirklich harter Knochen, der sich nie hängen ließ, zur Not noch mit dem Kopp unter dem Arm seinen Job machte und ohne Klagen wieder aufstand, wenn er auf die Schnauze gefallen ist. Womit er es allerdings nicht so hatte, das waren Veränderungen, Unsicherheiten, Risiko und Menschen, die er nicht kannte.
Umso mehr rechne ich ihm heute hoch an, dass er es immer ohne Kritik, Vorwürfe oder gar ein Wimpernzucken ertragen hat, dass er durch mich – dieses völlig aus der Art geschlagene Kind – gezwungen war, ständig indirekt genau daran teilzuhaben: an einem Leben voller Veränderungen, Unsicherheiten, Risiko und Menschen, die er nicht kannte. Aber vielleicht hat es ihm ja auch gefallen, dass ich da anders war als er, wer weiß? Nach 5 Jahren, in denen er mit Pokerface mit uns beim Chinesen gesessen hatte (ohne selbst etwas zu essen, denn „ich esse keinen Hund“), ließ er sich schließlich doch darauf ein und aß bis zu seinem Tod mit großem Genuß die Nummer 196. Und nur die 196. Aber immerhin…
Alles neu macht der Mai, denn dann wird das zweite Auge operiert und deshalb habe ich mir jetzt überlegt, dass ich mir unbedingt eine Bucket List machen muss, eine Wunschliste von allem, was ich ab Mai mit meinen neuen Kleinkinder-Augen (neu) sehen und erleben will und kann. Tauchen zum Beispiel. Jetzt könnte ich vielleicht sogar surfen lernen ohne Angst zu haben, das Ufer nicht mehr zu finden… Rock ´n Roll mit Überschlag tanzen … hahaaa, mir wird schon einiges einfallen!
Dir vielleicht auch? Wie sieht Deine Bucket List aus?
Wir sehen uns! Deine tRaumpilotin