In der Höhle des Löwen


Einfach nur mal schnell die Mails checken

Ich dachte ja, ich wäre clever, als ich mir bei der Telekom vor meiner Abreise „für den Übergang“ noch schnell eine Test-Sim-Karte mit Internet-Guthaben (LTE) für 30 Tage bestellt und von Freunden eine hdspa-Antenne geliehen habe und dachte, dass ich so wenigstens meine Mails abrufen könnte….Hast Du schon einmal versucht, mit sagenhaften 39kb/s in´s Netz zu kommen? Das kannst Du Dir nicht vorstellen und das willst Du Dir auch nicht vorstellen. Also war erstmal nüscht mit Internet und Mails.

In meinem Smartphone habe ich 2 Sim-Karten: eine Prepaid von Blau.de (seit kurzem im Eigentum von O²) und eine von 1&1 (Vodafone)., die ich als 1&1-DSL-Kunde in Berlin kostenlos dazu bekommen habe. O² scheint es wie die Telekom zu halten: mit dem Landleben haben beide nichts im Sinn.

Das einzige, was hier halbwegs geht, ist meine Vodafone-Sim-Karte, wenn ich mich gerade auf den richtigen Quadratzentimetern befinde und das Wetter mitspielt. Ich habe schon überlegt, ob ich überall im Haus kleine Markierungen anbringen sollte, dort, wo mein Handy ab und zu mindestens zwei Balken anzeigt… Eine harte Umstellung für Großstadtpflanzen.

Beruhigend, dass ich mich als Double-20something noch gut an die Zeiten erinnern kann, als es ganz normal war ohne Telefon oder Internet zu sein und ich weiß, dass man das überleben kann.

Ach übrigens, die Welt ist ja so klein: an meinem ersten Abend in der Oberlausitz traf ich im Dorfgasthaus eine Nachbarin nebst Familie. Ihre Schwester erzählte mir, dass sie damals ebenfalls „in den Westen gegangen“ ist. Und wo hat ihr Ehemann damals gelebt? Erst im Wedding und später dann in Friedrichshain.

Selig sind die Unwissenden

Mein Großvater Wilhelm wurde in #Görlitz/Zgorzelec geboren, vielleicht zieht es mich deshalb als erstes dorthin. Heute ist die Stadt geteilt und im Moment weiß ich gar nicht, in welchem Teil der Stadt er geboren wurde – im deutschen oder im polnischen. Aber heute bin ich auch nicht als Ahnenforscherin unterwegs, sondern nur als Berlinerin, die die Gegend erkundet.

Kein Netz und keine Zeitung, also habe ich keinen blassen Schimmer, was um mich herum geschieht und bin daher auch völlig unbelastet. Erst Tage später soll ich über #twitter erfahren, was gestern, am 3.10.15 in Görlitz los war und wohin anscheinend die ganzen Polizeiwagen unterwegs waren, die mich auf der Autobahn überholt haben. Ich sollte mir wieder angewöhnen, Radio zu hören.

Was ich in diesem Zusammenhang ja jetzt im Nachhinein überhaupt nicht verstehe: die größten Vorbehalte, die ich bisher von Oberlausitzern gehört habe, waren die gegenüber Polen. Anscheinend wird ein Großteil der organisierten Bandenkriminalität, vor allem das Verschwinden von Autos in den Grenzstädten, polnischen Banden zugeschrieben.

Ob das tatsächlich der Fall ist, weiß ich nicht, aber wenn das die gängige Meinung hier ist, warum solidarisieren sich dann Nationalisten aus der Oberlausitz mit denen aus Polen? Gegen wen und wofür? Aber vielleicht erklärt mir das ja noch jemand…

Achterbahn statt Stadtverkehr

An die Straßen in der Oberlausitz muss ich mich wirklich erst einmal gewöhnen, aber für Motorradfahrer dürften sie der absolute Traum sein. Eine Kurve folgt der anderen und ein Berg dem nächsten.

Ich hab ja immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich nur mit 80 auf der Landstraße fahre, denn die Oberlausitzer hinter mir bevorzugen eine ganz andere Geschwindigkeit. Kunststück, die könnten die Strecken wahrscheinlich im Schlaf fahren, weil sie sie in und auswändig kennen. Liebe Oberlausitzer, es tut mir Leid, ich hätte ja sehr sehr gerne den Zug nach Görlitz genommen, um mehr von der Landschaft zu sehen, aber leider hält schon lange kein Zug mehr in meinem Dorf.

Zu Ostzeiten fuhr auch ein Zug direkt zwischen Görlitz und Aachen, den wir genommen haben, wenn wir „die Familie“ besuchten. Die Züge waren in der Regel brechend voll und es war keine Seltenheit, dass Leute direkt mit 5-10 Koffern pro Person unterwegs waren.

Einmal brauchte der Zug mehr als 24 Stunden für die Fahrt, weil – aus welchen Gründen auch immer – der ganze Zug gefilzt wurde und so lange stehen bleiben musste. Aber meine Mutsch hatte immer Unmengen von Stullen mit Buletten und Schnitzeln dabei („man kann ja nie wissen!“), so dass wir nie hungern mussten und das Rattern und Pfeifen der alten Dampfloks habe ich unendlich geliebt.

Görlitz/Zgorzelec

Frauenturm in Görlitz

Frauenturm in Görlitz

Ich kann mich noch sehr gut an die Stadt Görlitz von damals erinnern – heute ist sie, wie so ziemlich alle Städtchen hier, nicht wiederzuerkennen.

Die Straßen sind, verglichen mit Berlin, in einem sensationellen Zustand und die wunderschönen alten Häuser tragen fast alle ein Sonntagskleid. Würden mehr Touristen aus NRW hierher kommen, würden einige von ihnen sicherlich Petitionen einlegen, denn die Ortschaften dort sehen dagegen wirklich erbärmlich aus.

Verglichen mit früher hat auch die Zahl der parkenden Autos in Görlitz deutlich zugenommen. Kein Wunder, denn ohne Auto ist man in der Oberlausitz völlig aufgeschmissen und so hat hier so gut wie jeder über 18 einen fahrbaren Untersatz.

An die Palmen vor einem der Görlitzer Stadttürme, dem Frauenturm, kann ich mich nicht erinnern, aber sie stehen ihm gut. Anscheinend hat sich bisher noch niemand daran gestört, dass Palmen nicht wirklich urdeutsch sind.

Ich sehe – zwischen den meist schon älteren Leuten hier – pink gefärbte Haare und bunte Klamotten, aber (Gottseidank) nicht einen Springerstiefel. Alles in allem ist es hier gerade rundum idyllisch und alles entspannt – man merkt überhaupt nichts davon, dass hier gestern anscheinend ein Sturm getobt hat.

Ich habe keinen blassen Schimmer, welches Café oder Restaurant ich hier anpeilen sollte und mache also das, was Touristen in Berlin tun: ich zücke optimistisch das Smartphone (bin ja jetzt in der Stadt), nur, um es ganz schnell wieder wegzustecken. Kein Netz.

Also theoretisch schon, praktisch aber nicht. Also folge ich meiner Nase und – siehe da – ein Restaurant mit original schlesischer und görlitzer Küche erscheint vor mir, das Schankhaus zum Nachtschmied.

In Berlin wäre die Tatsache, dass es fast leer ist, ein Indiz dafür, dass es schlecht ist, hier jedoch scheint das leider öfter vorzukommen. Auch wenn in der Presse steht, dass der Tourismus in Görlitz boomt. Aber alles ist ja auch relativ und als Friedrichshain-Kreuzbergerin bin ich da wahrscheinlich einfach andere Dimensionen gewöhnt.

restaurant

Schankhaus zum Nachtschmied

Und in der Tat, meine Holunderbeersuppe mit Croutons schmeckt herrlich und erinnert mich stark an die Sauce, die meine böhmische Mutsch immer zu ihren Buchteln macht. (Wie schade, dass meine Holunderbeeren im Garten schon verdorrt sind, sonst würde ich sie sofort nachkochen.) Liebe Berliner, Holunderbeeren sind übrigens ein hervorragendes Mittel gegen Erkältungen.

Die Bedienung ist anfänglich etwas zurückhaltend, aber später verirrt sich doch noch ein zaghaftes Lächeln in ihr Gesicht. Ich nehme das nicht persönlich, denn in Berlin ist das völlig normal.

„Aaah, wo Restaurants sind, gibt’s meist auch einen Hotspot“, denke ich, also zücke ich wieder mein Smartphone. Tätsächlich lächelt mich auch ein Free-Wlan-Hotspot von Vodafone an, nur rein komme ich – warum auch immer – leider nicht.

Das soll aber nicht an mir liegen, erzählt mir später ein Internet-Experte, sondern ist ganz normal. Na dann. Dunkel erinnere ich mich an einen Laden hier in der Nähe mit Bunzlauer Geschirr und die mittlerweile doch sehr nette Bedienung weist mir den Weg. Geht doch auch ohne Internet, wenn es Hotspots auf zwei Beinen gibt.

Der Tippl-Traum

Ich bin mit #Bunzlauer Keramik quasi groß geworden, irgendwie hatte jeder zumindest ein original „Tippl“ bei sich stehen und ich möchte auch eins für mein Töchterchen. Da meine Vorfahren sehr praktisch veranlagt waren, muss dieses Geschirr nicht nur sehr hübsch, sondern auch sehr praktisch sein und ist damit sein Geld wert.

Görlitz Foto: tRaumpilotin.de

Bunzlauer Tippl

Ob das, was ich dort in der #Schlesischen #Schatztruhe stehen sehe, auch heute noch in Bunzlau/Bolesławiec
gefertigt wurde, kann ich nicht beurteilen, aber es sieht wunderhübsch aus wie eh und je. #Tippl über Tippl, eins schöner als das andere, so dass man sich kaum entscheiden kann. Meinem Töchterchen können die Becher nie groß genug sein, denn sie nimmt sie für fast alles: zum Teetrinken, Müsli essen etc. etc. Eigentlich käme sie gut nur mit einigen solcher Tippl aus, ohne weiteres Geschirr zu benötigen. Das, was ich ausgewählt habe, fasst jedenfalls etwa ½ Liter – da ist man dann schon flexibel in der Nutzung. Die Verkäuferin (oder Eigentümerin) an der Kasse bekommt leuchtende Augen als sie meinen Becher einpackt und strahlt mich an, als sie erzählt, dass sie es genauso hält und ebenfalls eine ein-Tippl-für-alles-Vertreterin ist.

Irgendwann demnächst muss ich hier noch einmal hier vorbeischauen, denn neben Bunzlauer Keramik findet man hier auch viele Bücher zur Geschichte #Schlesiens und zur #Vertreibung, in denen ich unbedingt mal in Ruhe stöbern muss.

Einkehr

Nebenan steht die Dreifaltigkeitskirche, kein Prunkbau, sondern sehr zurückhaltend und bescheiden, eine Kirche der Katholiken und Protestanten, wie ich später erfahre. Eine Kirche, in der sich die Reichen ein Grabmal nahe beim Altar errichten ließen (damit der Weg ins Paradies nicht so weit ist) und die sich anscheinend gleichzeitig dem einfachen Volk verbunden fühlte.

Heute ist der 5. Todestag meines Väterchens und ich will dort nur in aller Stille eine Kerze für ihn anzünden und bin gar nicht auf „Besichtigung“ aus, jedoch das Innere dieser Kirche beeindruckt mich dann doch ungemein, die Architektur, die Grabmäler, das „verschwundene Kreuz“, dessen Spuren man noch an der Wand sehen kann und der wunderschöne Flügelaltar „Goldene Maria“ …

Eigentlich müsste ich jetzt viel mehr zu dieser Kirche schreiben, denn darin verbergen sich nicht nur künstlerische Schätze, sondern auch viele hoch interessante historische Geschichten. Dass ich einen Teil davon erfahren darf, habe ich einem jungen Mann um die 50 zu verdanken, der dort ehrenamtlich durch die Kirche führt und zu jedem Kunstwerk und jeder Ecke des Gebäudes so malerisch zu erzählen weiß, dass man alles vor seinem inneren Auge sehen kann.

Schade, dass ich hier keinen Kamera-Mann kenne, der ihn dabei filmen könnte – dieser Mann würde mit Sicherheit direkt Fans auf einem Youtube-Kanal gewinnen. Er erinnert mich irgendwie an Heinz Rühmann: die gleiche Lebendigkeit und der gleiche Charme und ich könnte hier eine Woche sitzen bleiben, um ihm zuzuhören.

Was ich besonders spannend finde: er erzählt auch von einem Aufstand der Zunftsvertreter in grauen Zeiten, die ein größeres Mitspracherecht bei den Stadtratsentscheidungen einforderten. Sieben davon mussten das damals mit ihrem Leben bezahlen und noch heute läutet die Glocke der Kirche im Andenken an sie sieben Mal. Einige meiner Vorfahren waren ebenfalls Vertreter ihrer Zünfte, allerdings viele Jahre später in Zittau, so dass ich schon allein deshalb das Thema besonders spannend finde. Was aber noch hinzukommt, ist die Hochachtung vor diesen Menschen, die sich – auch zum Wohle anderer – trotz Lebensgefahr damals so mutig für eine gerechte Sache eingesetzt haben.

Zwei Frauen ungefähr in meinem Alter gesellen sich hinzu und könnten gerade von Friedrichshain-Kreuzberg hierher gebeamt worden sein, so bunt wie sie sind. Sie erzählen begeistert von einer Andacht, die sie am gleichen Tag zufällig erlebt haben, als sie auf Wanderschaft waren.

Nicht, dass ich je eine große Kirchengängerin gewesen wäre, aber die Herzlichkeit und Wärme dieses Grüppchens ist einfach so ansteckend, dass meine Trauer verflogen ist und ich beschwingt wieder hinaustrete. Jedoch vorher lasse ich mir noch die Kontaktdaten des talentierten jungen Mannes geben.

Vielleicht kann ich ihn ja einmal weiterempfehlen und herzliche intelligente Menschen kennt man sowieso nie genug. Und, wie sich herausstellt, lebt auch sein Zwilingsbruder in Friedrichshain. Also die Verbindung zwischen Menschen in Berlin und der Oberlausitz ist vielleicht schon viel ausgeprägter, als man denkt?

Bevor ich jetzt wieder in mein Dorf fahre, muss ich aber unbedingt noch in einem Buch-Antiquariat stöbern. Hier entdecke ich nicht nur tolle Bücher, sondern auch wunderschöne Fotografien, Panoramabilder von Görlitz und Umgebung. Ich kann nicht wiederstehen und muss unbedingt einen der limitierten Fotokalender als Zierde für mein Häuschen kaufen. Leider finde ich die Fotos (noch) nicht im Internet, ich hätte sie Dir gerne gezeigt.

Natürlich nutze ich auch jetzt die Möglichkeit eines Pläuschchens und wie sich herausstellt, ist der junge Mann, mit dem ich mich jetzt unterhalte, vor einigen Jahren mit Frau, Kind und Kegel aus Schwaben nach Görlitz migriert und in einen wunderschönen Dreiseiten-Hof gezogen. Ist ja ein Ding.

Während ich mich mit ihm unterhalte, fällt mir auf, dass er weder einen Oberlausitzer noch einen schwäbischen Dialekt spricht und hake mal nach. Er lächelt mich an und bei der Antwort falle ich fast um: seine Wurzeln sind ganz ursprünglich palästinensisch. Ich fasse es nicht. Ein Palästinenser zieht von Schwaben nach Görlitz und fühlt sich hier wohl, liebt die Stadt und die Menschen.

Jetzt im Nachhinein, da ich in meinem Häuschen endlich die Möglichkeit habe, per Internet festzustellen, wo ich mich befunden habe, ärgere ich mich jetzt fast, dass ich nicht auch die Gelegenheit genutzt habe, über eine der restaurierten Brücken nach Zgorzelec hinüber zu spazieren. Aber ich werde ja bald wiederkommen, um Neues zu entdecken…

Und wenn Du schon jetzt mehr wissen willst, dann schau auch mal bei Facebook rein.


Über tRaumpilotin Luna

2015 habe ich den tRaumpilotin-Blog gegründet, als ich in die Oberlausitz gezogen bin, um dort zu leben und zu arbeiten. Seitdem ist viel passiert, aber ich finde nach wie vor das Glück. Mehr über mich findest Du hier: https://traumpilotin.de/business-traumpilotin/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

* Benötigt

Ein Gedanke zu “In der Höhle des Löwen