Halbzeit – da geht noch was

Quality Time

Quality Time


„Früher war das Leben ein Roman.
Heute besteht es aus lauter Slogans.“
tRaumpilotin

Irgendwann in den vergangenen Monaten hat mein Sohn diese zwei Wörter das erste mal gesagt: quality time. Oder genauer: „Ich wünsche mir, dass wir (mehr) quality time miteinander verbringen. Qualität statt Quantität.“ Seitdem verfolgen mich diese beiden Worte und ich lasse sie auf mich wirken.

Vorher habe ich sie noch nie gehört. Aber vielleicht habe ich auch nie zugehört. Oder mein Chemo-Brain hat es vergessen. Tatsächlich hatte ich gefühlt in den vergangenen 25 Jahren als berufstätige Alleinerziehende gar keine Zeit, geschweige denn quality time. Aber das lag nicht nur an den Umständen, sondern auch an dem Druck, den ich mir selbst gemacht habe.

 

Hä? Quality time?

Wie jetzt? Was soll das sein?

Ich stehe mit meiner Zeitnot nicht alleine da. Denn obwohl wir in einer Gesellschaft angekommen sind, die voller Möglichkeiten ist, Zeit zu sparen (zahlreiche Haushaltsgeräte, Lieferdienste, Fast Food und Digitalisierung) scheint Zeit trotzdem immer knapper zu werden. Auch bei Leuten, die sich eigentlich nur um sich kümmern müssen.

Und nicht nur das: der permanent mögliche Konsum frisst auch den Genuss und die Lebensfreude. Es scheint nur noch darum zu gehen, dass man Zeit für irgendwas aufwenden muss und weniger darum, wie man es tut. Quantity eben. Nicht quality.

Woran liegt das eigentlich? 

Nun, zum einen ist es natürlich auch schon ein bisschen en vogue, zu sagen, man habe keine Zeit. Denn das signalisiert, dass man erfolgreich und begehrt ist. Und dazu kommt der gesellschaftliche Druck. Man traut sich ja kaum noch zugeben, dass man Zeit hat oder noch schlimmer: „Ach, ich hab nur gechillt“. 

Igitt, da bekommt man ja fast Pickel! Das ist doch der Inbegriff des nicht erwachsen gewordenen Loosers, mit dem niemand spielen möchte oder nicht?

Glück ist… ?

Aber ist das jetzt wirklich etwas, worauf man wirklich stolz sein kann, wenn man sagt: ich habe keine Zeit? 

Ist es ein Qualitätsmerkmal, wenn man seine Zeit jahrzehntelang vor allem spaßfrei gestaltet, weil man das halt so macht, wenn man erwachsen ist? Weil spaßfrei oft mit sinnvoll gleich gesetzt wird? Nur wer sich quält… wer schön sein will… etc. etc.

Oder man macht es halt so, weil die Eltern das auch schon so gemacht haben? Weil die Gesellschaft das so erwartet? Oder weil man sich überhaupt nie Gedanken gemacht hat, womit man seine Zeit verbringen möchte?

Ist es wirklich verwerflich oder dumm, glücklich sein zu wollen, entspannt, ausgeschlafen und (zumindest eine Zeitlang) vor allem auf eine Sache / einen Menschen fokussiert mit der/dem man sich auch wohlfühlt? 

Oder seine Zeit mit etwas zu verbringen, das sinnvoll ist, aber keine vorrangig offensichtlich kapitalistische Bedeutung hat?

Schon mal darüber nachgedacht, welche Qualität Zeit für dich eigentlich hat? Und was dich glücklich macht?

Musst du unbedingt Karriere machen in einem Job auf den du eigentlich gar keinen Bock hast, um ganz viel Geld zu verdienen?

Musst du eigentlich zahlreiche Überstunden machen, weil du unentbehrlich bist/sein willst oder die Chefin einfach nur Personal einsparen möchte? Oder weil du überhaupt kein Zeitmanagement hast? 

(Oder behauptest du vielleicht auch nur, dass du zahlreiche Überstunden machst, während du heimlich Pornos auf dem PC ansiehst?)

Musst du 4 Tage pro Woche feiern gehen und ganz viele Leute treffen, um zu zeigen, wie jung, dynamisch und beliebt du bist?

Musst du dir das perfekte Förderprogramm für deine Kinder überlegen (und umsetzen) und dazu alle Ratgeber lesen, die auf dem Markt sind?

Musst du unbedingt 1x pro Woche Fenster putzen und Unterhosen bügeln, um den perfekten Haushalt vorzuweisen?

Musst du dir von deinem Partner/deiner Partnerin und/oder deinen Kindern wirklich jeden Scheiß gefallen lassen und sie von vorne bis hinten bedienen?

Musst du tatsächlich jeden Scheiß auf Instagram posten oder lesen? Ehrlich jetzt?

Gehst du eigentlich zum Workout, weil es dir Spaß macht oder weil du Angst hast, auf Instagram gemobbt zu werden, wenn du zunimmst?

Musst du unbedingt 1000 Freundinnen bei Facebook haben und zahlreiche potentielle Lover anstatt eine Hand voll echte Freundinnen und einen (oder zwei 😉) Lover im wahren Leben?

Diese Fragen wurden jetzt übrigens nicht mit Psycholog*innen ausgearbeitet, aber ich bin mir trotzdem sicher, du kennst die Antworten und du kennst die Quintessenz.

Das klingt doch alles nicht nur Scheiße oder? Das ist es auch! Weit entfernt von Quality!

 

Gestern habe ich meinem Sohn dann erzählt, wie schön es war als ich so alt war wie er und alles so viel intensiver und genussvoller war. Finde ich jedenfalls. Damals, als Zeit noch eine völlig andere Dimension besaß.

Do you remember? Vielleicht erinnerst du dich auch noch?

1. Die Buchrecherche in der Unibibliothek. 

Der Geruch von Büchern im Allgemeinen und von gebrauchten Büchern im Besonderen. Wie habe ich ihn geliebt. Die ehrfurchtsvolle Stille in den Bibliotheksräumen.. Die Karteikästen zur Stichwort- und Titelsuche. Der Blick aus dem Augenwinkel: „Ach, der ist auch hier?“ Das sich Vertiefen in die vielen wunderschönen Publikationen, vielfältig, beeindruckend und lehrreich. Auch wenn sie schon Gebrauchsspuren hatten. Und der Stolz, wenn man dann erfolgreich die Beute nach Hause geschleppt hat…

2. Die Bandsuche

Zahlreiche Aufenthalte in Cafés, um dort die Aushänge zu studieren. Kaffeeduft. Handgeschriebene Zettel, die schon so viel über ihre Autor*innen ausgesagt haben (Handschrift? Zerknittert? Befleckt? Unterstrichen? Bezirk (über die Telefonnummer)? Ausgiebiges Studium des Anzeigenteils von zitty und Tip. Der Blick aus dem Augenwinkel: „Ach, die ist auch hier?“ Darauf noch einen Milchkaffee ☺️.

3. Die Partner*innensuche

Ach, wie romantisch das früher war! Man traf sich irgendwo im wahren Leben (im Club, auf der Party, im Café, in der Bibliothek) verbrachte einige schöne Stunden, tauschte Nummern aus und bewachte dann das Analogtelefon, damit bloß niemand auf die Idee kam, zu telefonieren. 

Dann rief man selbst an, mit klopfendem Herzen, nachdem man vorher genau kalkuliert hatte, zu welcher Zeit die Person wohl zu Hause sein könnte. 

Ich weiß nicht was enttäuschender war: ein stundenlanges Besetzt-Zeichen (mit wem telefoniert er/sie wohl?) Oder ein stundenlanges Freizeichen (wo ist er/sie denn jetzt und mit wem?)

Alles, was man erfuhr, erfuhr man nur durch direkten Kontakt mit dieser Person und ihren engsten Vertrauten nach und nach. Man lebte quasi in seiner eigenen Daily Soap – immer in hoffnungsvoller Erwartung und erlebte viele Überraschungen. 

Und die Wartezeit wurde versüsst durch stundenlange intensive Gespräche mit der besten Freundin oder dem besten Freund über die letzten Ereignisse und ihre mögliche Bedeutung…

4. Die Vorfreude

Die Vorfreude war unsere ständige Begleitung. Wir hatten immer etwas, das wir erhofft haben oder worauf wir uns gefreut haben. Kein Facebook-Stalking, keine Instagram Updates, kein online-Dating, kein Netflix, keine E-Books zum Download. 

Dafür sich das nächste Treffen vorab ausmalen, hoffen, bangen und sich dann freuen (oder eben auch nicht), erwartungsvoll auf die nächste Folge der Lieblingsserie im Fernsehen oder die Kinopremiere warten und spannende Bücher im Buchladen bestellen. 

5. Intensive Zeit mit der/dem Liebsten

Ich mach’s kurz. Keine permanente mediale Ablenkung, kein ständiger Blick ins Smartphone. Stattdessen: lange Blicke in die Augen der/des anderen oder gemeinsame Blicke in die Ferne, sinnliches Erleben, der Genuss von hier und jetzt.

6. Die Arbeit

Früher gab es keine „Arbeitserleichterung“ durch Digitalisierung. E-Mails gab es nicht. SMS und Handys gab es nicht.

Du hast während deiner Arbeitszeit entweder mit einer Person gesprochen (real oder am Telefon) oder du hast dich deiner eigentlichen Arbeit gewidmet. Du wurdest nicht ständig unterbrochen oder abgelenkt.

Und weil du ohne digitale Möglichkeiten auskommen musstest, hattest du auch deutlich länger Zeit, dich mit einem Projekt intensiv zu beschäftigen, zu feilen und Fehler auszumerzen. 

24/7 Verfügbarkeit gab es nicht. Entweder du hattest frei oder du hattest (regulären) Bereitschaftsdienst oder du hast gearbeitet. Und permanente verunsichernde Vergleiche mit anderen außer den Menschen in deinem direkten Umfeld gab es auch nicht.

Seufz. War das alles entspannt. Oder nicht?

Jetzt also back to the roots, sprich, die Neuentdeckung der quality time. Danke Sohn, du hast ja so Recht! Das war allerhöchste Eisenbahn.

Ich war schon mehrmals in meinem Leben in der Situation, dass ich das dringende Gefühl hatte, mein Leben neu ausrichten zu müssen, meinem Leben eine neue Qualität zu geben. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich in die Oberlausitz gezogen bin. 

Aber erst im letzten Dezember, als ich die Diagnose Lungenkrebs bekommen habe, habe ich den Kanonenschuss auch wirklich gehört. Nicht zu wissen, wie lange man noch hat. Damit zu rechnen, dass es jeden Tag vorbei sein kann.

Da ist mir erst bewusst geworden, was ich alles nicht mitnehmen kann, wenn ich abtrete, was ich alles hinterlasse und vor allem, dass ich ganz alleine gehen werde. Nur ich alleine. Denn so ist das nun mal. Wenn du stirbst, stirbst du ganz alleine, auch wenn zufällig gerade noch jemand dabei sein sollte.

Das macht schon was mit einem. Da wird einem klar, dass man ja eigentlich seine eigene Hauptbezugsperson sein sollte. Dass es leichter wird, alleine abzutreten, wenn man mit sich selbst gut klarkommt und sich nichts vorzuwerfen hat.

Und wie ungemein wichtig es ist, dass man möglichst jeden Moment genießt und wertschätzt, den man (mit seinen Liebsten) hat.

Ich versuche jetzt nur noch Tag für Tag zu leben, jeden Tag im Hier und Jetzt zu sein und wirklich jeden Tag quality time zu haben!

Das klingt wirklich viel einfacher als es ist. Es bedeutet, dass ich jeden Tag bewusst Entscheidungen treffen muss (und riskiere, falsch zu liegen). Es bedeutet, dass ich damit leben muss, andere auch zu enttäuschen, weil ich keine Lust habe, Zeit mit ihnen zu verbringen oder etwas für sie zu tun.

Es bedeutet, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Vor allem für mich selbst. Und es bedeutet Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Aber es bedeutet auch, unglaublich viele Glücksmomente zu erleben! 😍

Was macht dich glücklich? Und wer? Denk mal drüber nach!

Bis zum nächsten Mal

Deine tRaumpilotin

[11 Monate nach der Diagnose kleinzelliges Bronchialkarzinom]

PS:

Solltest du dich gerne noch ein bisschen mit dem Thema beschäftigen wollen, hier sind noch ein paar Beiträge, die ich im Netz gefunden habe und die mir gut gefallen haben

Entschuldigung, ich habe Zeit

„Eigentlich ist ganz viel Zeit da“

Wir haben keine Zeit

Der Irr-Sinn der Arbeit

Und hier ist auch noch eine Buchempfehlung für dich, nämlich „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny.


Über tRaumpilotin Luna

2015 habe ich den tRaumpilotin-Blog gegründet, als ich in die Oberlausitz gezogen bin, um dort zu leben und zu arbeiten. Seitdem ist viel passiert, aber ich finde nach wie vor das Glück. Mehr über mich findest Du hier: https://traumpilotin.de/business-traumpilotin/

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