Irgendwann wacht man auf und beginnt sich Fragen zu stellen – Fragen, die schon seit längerem in einem schlummern und nun mit aller Macht nach oben drängen.
Man fragt sich, was eigentlich noch von dem Menschen übrig ist, der man einmal war, welche Ziele und Träume, die einem mit 20 so unglaublich wichtig waren, auch wirklich erreicht wurden. Ob man das, was man tut, auch wirklich tun will oder nur, weil man denkt, dass man es tun muss. Ob das Bild, das andere von einem haben, übereinstimmt mit dem Bild, wie man sich selbst sieht.
Die Spätpubertierende
Bei mir begann das, als meine Kinder in der Pubertät waren und ich – genau wie sie – plötzlich Freiräume gewann. So, wie sie jetzt, losgelöst von mir, unterwegs waren, konnte auch ich, unabhängig von ihnen, mein eigenes Ding machen. Und ich merkte, dass wir im Prinzip in der gleichen Situation waren: wir mussten alle lernen, mit dieser Freiheit umzugehen. Ich war und bin nichts anderes als eine Spätpubertierende.
Im ersten Moment ist es ein wunderbares Gefühl, frei zu sein und selbst entscheiden zu können, was man mit wem und wann wie tun möchte. Im nächsten Moment jedoch merkt man, dass das gar nicht so einfach ist. Im Gegensatz zu Teenagern, die erst ja schemenhaft erkennen, was für ihr Leben und ihre Person bedeutsam sein könnte, hat man in meinem Alter schon eine Art Mustervorlage, an die man sich deutlich erinnern kann: die Schablone Twentysomething. Und die Zeit, die man noch zur Verfügung hat, scheint unendlich kürzer geworden zu sein.
Die Bedeutung von Zeit änderte sich für mich 2010, als mein Vater starb. Er war schon sehr lange sehr krank gewesen, so dass ich eigentlich darauf vorbereitet war, dass dieser Tag kommen würde. Der Verlust eines Menschen und die Lücke, die er zurücklässt ist das eine, worauf ich jedoch nicht vorbereitet war, war, dass sich mit dem Tod meines Vaters auch meine Position im System Familie änderte. Ich rückte nun auf in die Liga der Älteren, war nicht mehr das jüngste Töchterchen, das sich der schützenden Hände der Eltern gewiss sein konnte, sondern wurde nun mehr und mehr zu derjenigen, die es als nächste erwischen kann.
Früher habe ich immer geglaubt, dass ich kein Problem damit habe, dass ich irgendwann sterben würde. Zu dieser Zeit war es aber auch so, dass ich das Gefühl hatte, nichts zu bereuen und mein Leben so gelebt zu haben, dass ich mit mir und der Welt zufrieden sein würde, wenn der Tag X kommt. Das ist jetzt nicht mehr so.
Meine Twentysomething-Schablone und ich haben sich enorm auseinandergelebt. Wenn ich mir jetzt alte Bilder ansehe oder mich an mein Leben damals erinnere, an das was mir damals wichtig erschien und womit ich meine Zeit verbracht habe, kommt es mir vor, als würde ich einen anderen Menschen und ein anderes Leben betrachten, die nichts, aber auch gar nichts mit mir zu tun haben.
Und das tut weh. Es tut weh, wenn man das Gefühl hat, sich selbst verloren zu haben. Nicht, dass alles in diesem Leben nur super war. Nicht, dass ich diese Twentysomething nur super fand. Aber das, was mir im Rückblick gefällt, ist leider ebenfalls weg, verschwunden, ausradiert. Zumindest erscheint es mir so.